Anmerkung der Redaktion: Die nachfolgenden Zeilen zur Geschichte wurden von Vereinsgründer Harald Diller verfasst.
Anfang 1970er Jahre stellte ein Nervenarzt anlässlich wiederholter, zuerst sogenannter „Zustände nervöser Erschöpfung“ eine für meine Mutter folgenschwere, brandmarkende Diagnose: endogene Depression.
Über ein Jahrzehnt war hierdurch die medizinische Versorgung festgelegt und eng umgrenzt: Anfangs mit Psychopharmaka in zunehmend stärkerer Dosierung, dann hinzukommend turnusmäßige stationäre Aufnahme in der Psychiatrie. Jeweils nach sechs- bis zehnwöchiger Ruhigstellung mit hochdosierten Medikamenten wurde sie als „stabilisiert“ entlassen. Unter Einhaltung der empfohlenen Antidepressiva-Dosis waren anfangs auch eine gewisse Lebensfreude und der Mut zur Situationsbewältigung vorhanden. Doch nach wenigen Wochen begannen wieder die Selbstzweifel, der Konzentrations- und Kräfteschwund an ihr zu nagen, bis der „Akku“ leer war.
Wieder Psychiatrie, Medikamente, zeitweise Isolation in der geschlossenen Abteilung, Ruhigstellung bis zur „Entlassreife“, dann das gleiche „Spiel“ von vorne. Die Abstände zwischen Entlassung und nötiger Wiedereinweisung wurden immer kürzer, der Zustand meiner Mutter bei jeder Entlassung „entrückter“, teilnahmsloser, sprach- und bewegungsgehemmter, optisch unnatürlich aufgeschwemmt. Die Familie war hilflos, weil absolut unwissend und ratlos im Umgang mit der Situation und Problematik. Von medizinischer Seite kam nicht einmal im Ansatz der Versuch eines psychotherapeutischen Angehens – immer nur Medikamente…
Krankheit
Ab Ende 1982 führte meine Mutter eigentlich nicht mehr ihr eigenes Leben, nur noch ein Dasein in überwiegendem Dämmerzustand fast ohne jegliche Gefühlsregungen, monoton unruhig, schleppend in der Bewegung, starr ins Leere blickend. Die zunehmende Teilnahmslosigkeit wurde für uns immer unerträglicher. Den Zerfall einer einst lebensbejahenden, sehr aktiven, auf Reinlichkeit bedachten hochintelligenten, stets allseits hilfsbereiten Frau, Mittelpunkt der Familie, wollte ich dann nicht mehr länger tatenlos hinnehmen. Ab Mitte 1983 begann ich, mich mit ihrer Krankheit zu befassen, holte mir Information und Rat, machte mich schlau über Art und Wirkungsweise der Psychotherapie, suchte nach entsprechend behandelnden Stellen. Ich entschloss mich, eine derartige stationäre Behandlung anzustreben.
Diagnose
Doch welche Enttäuschungen: Wenn von Seiten der telefonisch kontaktierten Fachkliniken nicht schon als Erstes nach der bestehenden Diagnose gefragt wurde, stellte man uns in der Regel Aufnahmemöglichkeiten in frühestens sechs bis zwölf Monaten in Aussicht. In vielen Fällen, in denen zuerst nach der Diagnose gefragt wurde, beschied man mich, dass eine Behandlung einer endogenen Depression nicht durchführbar sei. Termin für ein Anamnesegespräch mit der Patientin wurde nicht vergeben. Langsam verzweifelnd, wollte ich schon aufgeben, als ich im Dezember eine Fernsehsendung mit einem Dr. Bick, aus Dahn/Eifel verfolgte. Dr. Bick war Chef der dortigen Felslandklinik und berichtete über seine Methode, der psychotherapeutischen Behandlung von Depressionen und Ängsten im Hypnosezustand der Patienten.
Hoffnung
Bei meiner telefonischen Vorsprache ließ ich es dieses Mal nicht zu, die Diagnose gleich preiszugeben, sondern bestand beharrlich auf einem Gespräch ohne Vorurteil. Es klappte! Ich fuhr mit meiner Mutter nach Dahn. Dr. Bick schenkte ihr fast zwei Stunden Zeit und Aufmerksamkeit und „entlockte“ ihr meinem Beisein Schilderungen aus Kindheit, Jugendzeit, Familie, von Kriegserlebnissen, durchlebten seelischen Konflikten, erlebten Enttäuschungen in früheren Jahren. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Über solche Probleme hatte sich meine Mutter mir, der Familie gegenüber nie geäußert. Es fiel in einer Intensität aus ihr heraus, was sie all die Jahre in sich hineingefressen und immer mit sich herumtragen hatte, dass es mich betroffen machte.
Dr. Bick äußerte seine Überzeugung, dass die Beurteilung „endogene Depression“ eine eindeutige Fehldiagnose war und meiner Mutter mit einer entsprechend intensiven psychotherapeutischen Behandlung noch zu helfen wäre. Er stellte eine Möglichkeit zur Aufnahme in seiner Klinik für Mitte/Ende Januar 1984 in Aussicht. Große Hoffnung erfüllte uns alle! Wir waren voller Vertrauen zum Urteil dieses Arztes. Nur eine kleine Einschränkung: Der Termin war abhängig vom Genesungsverlauf eines Patienten, an dessen Platz dann meine Mutter aufgenommen werden sollte. Am 19.1.84 kam die Mitteilung, dass der Behandlungsbeginn um voraussichtlich 3 Wochen nach hinten verschoben werden müsse.
Enttäuschung
Es war offenbar ein derartiger Rückschlag für meine Mutter, dass sie ihre Chance schwinden sah. Die kurze Verzögerung deprimierte sie so stark, dass wieder einmal alle Kraft schwand. Am 26.1.1984 wurde sie bei ihrem behandelnden Nervenarzt vorstellig und erhielt eine Verordnung der bisherigen Psychopharmaka. Freitag, der 27.1.1984 war ein klarer, sonniger, aber sehr kalter Wintertag. Als mein Vater nachmittags von der Arbeit heimkam, war Mutter nicht da, was schon ungewöhnlich war. Mit einbrechender Dunkelheit wurde es zur Gewissheit, sie galt als vermisst…
Die ganze Nacht hindurch suchten mein Vater und meine Brüder bei Verwandten, Freunden, Bekannten und später auch an Stellen im Freien, wo man sie hätte vermuten können. Am Samstagmorgen fand sie dann mein Onkel, Bruder meiner Mutter, in einer offenen Wanderhütte am Strietwaldhäuschen, einem markanten Aussichtpunkt im Wald. Sie war dort, auf einer Bank sitzend, erfroren. Wie sich danach herausstellte, hatte sie eine große Menge der Psychopillen geschluckt.
Nach fachlicher Auskunft wäre das nicht tödlich gewesen. Doch hat die Menge eine seelische Entkrampfung herbeigeführt, hat alle Ängste und Bedenken gelöst. Mutter hatte normalerweise panische Angst, alleine in den Wald zu gehen. Durch die Wirkung der hohen Dosis hatte sie das überwunden. Wahrscheinlich erlitt sie dort einen Schwächeanfall oder bemerkte nicht die in ihr aufsteigende tödliche Kälte. Es war ein Tod, der durch einige, von verschiedenen verantwortlichen Seiten hätte verhindert werden können. Es war ein unnötiger Tod! Es war ein vorzeitiges Ende, kurz vor einem greifbar gewordenen Ziel!
Schmerz
Der Schmerz, den der Tod verursachte, die Art und die Tragik, doch auch die Wut und Enttäuschung über den Ablauf der Krankheit, über die Machtlosigkeit hinsichtlich des nach später Erkenntnis falschen Behandlungsverlaufs, meiner eigenen Unfähigkeit, nicht früher schon etwas dagegen und für die Mutter getan zu haben, ließen innerhalb weniger Stunden einen Entschluss in mir reifen: Der Tod meiner Mutter sollte, wenn schon unnötig, dann doch aber nicht auch noch sinnlos sein!
Idee und Umsetzung
Mit einer regional im Main-Echo und bundesweit in DIE WELT geschalteten Anzeige prangerte ich die Missstände, die ich im Umgang mit psychischen Erkrankungen erkannt hatte, an. Mein Aufruf zur Gründung einer Stiftung für ein menschlicheres Leben und Hilfe für Depressive löste eine ungeahnte Welle der Zustimmung, Unterstützung, aber gleichwohl eine Flut von Anfragen Betroffener aus, die Hilfe suchten. Es bildete sich sofort eine lokale Initiativgruppe, in der binnen weniger Wochen die Vorgehensweise diskutiert und festgelegt wurde.